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736 LEONHARD LEHMANN Welt, in die damals Pius IX. das Dogma von der Immaculata sprach, war die W elt des Naturalismus: der Mensch reich so weit wie sein Verstand; was ihm nicht einsichtig ist, gibt es nicht. Das war der Mensch, der nur an sich selber glaubte, der sich einfach nahm, wie er war: Ich bin so wie ich bin: Natur, Lebendigkeit, ursprüngliche Sprudelhaftigkeit; und was sich regt, das Helle und das Dunkle, ist echt und recht und soll zu Worte kom– men. Dahinein stellt die Kirche das Bild der Immaculata, wie es Duns Scotus sah und lehrte, das Bild des begnadeten Menschen, dessen Hintergrund zwar Sünde und Sacan heifst, der aber in der Gnade und nur in der Gnade beide, Sünde und Sacan, die machtige Wirklichkeiten sind, innerlich bandigen und überwinden und sich in die reine Hohe Gotees erheben kann. Gesegnet und begnadet ist dieser Mensch. Und nur er gilt, der be– gnadete Mensch. Was damals anfing, das hat sich heute verdichtet zu einem endgültigen Wissen um den Menschen, zu einem endgültigen Willen zum Menschen. Man hat ihn irgendwie erlost aus seinen Zweifeln um die Jenseitigkeit, um die Frage des Vertikalen und hat ihn endgülcig eingesponnen in den Horizont seiner selbst. Man hac ihn erlosc von der Frage um das ich und Du, um den einzelnen und den anderen, um den Selbstandigen und die Gemeinschafc. Man hat über ihn gesprochen die dreifache Botschafc des absoluten Es, das einfach gilt, das den Menschen einfangt in sein Gesetz, in seine Ordnung, in seine Gültig– keit, und keine Frage nach dem Ich und nach dem Du und über die Sterne hinaus zulasst. Und das ist das erste Es, das gesprochen wird: das Gesetz der biologischen Ordnung, ihres biologischen Naturalismus. Es gibe kein personliches Jenseics. Der Mensch ist erklart hineinbeschlossen in den biologischen Zusammenhang der Geschlechterfolge; in ihn hinein kommt er; in ihm lebt er; in ihm stirbt er, in ihm lebt er weiter. Was den Menschen aus diesem Zusammenhang herausruft ist Verrat und Schandung der Natur. Da stehc das zweite Es und seine Botschafc vom Menschen, unerbictlich und hart; das Es der kollektivistischen Ordnung; es gibt keinen freien Menschen, es gibt nur noch den Menschen im Kollektiv, den Menschen in der Gemeinschafc. Der Einzelne scheidet als selbstandige Gro/se aus; er hat nur Stellenwert, Funktionswert, Dienstwert. Und das Es des Kollektivs prüft kalt und brutal, was noch an Wert von diesem Einzelnen zu erwarten ist für das Es des Ganzen. Das Kollektiv entscheidet hart und unerbitclich und scheidet ebenso hart und unerbicclich aus. Das Schicksal des Einzelnen hangt wirklich daran, was er noch für das Es, Kollektiv, bedeutet. Das dricte Gesetz des Es: das ist die Geschichte. Dieses Heraufdammern und Heraus– brechen der Revolutionen und Evolutionen, von Lawinen und schicksalhafcen Kratern, die keiner gerufen haben will und dennoch dascehen und hart und unerbicclich den Menschen hineinzwangen unter die Walze des Geschehens und ihn zermalmen; diese Geschichte ist der einzige Lebensraum, in dem er bestehen kann, sich bewegen darf und gelcen kann. Der Mensch unter dem Es. Es ist keine Geistreichelei und auch keine reaktionare Schwatzerei, wenn ich sage, die W ahrheit der Immaculata, wie sie der scharfsinnige Duns
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